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FORMBAR  9/2022

 Schnittstellen zeitgenössischer Porzellan- und Keramikkunst

TEIL 5: Fühlbar unantastbar – Maria Volokhovas morbide Porzellandesigns

von Andrea Müller-Fincker (Ausschnitt)

Zwischen Natur und Artifizialität, Aversion und Faszination, reiner Ästhetik und funktionalem Objekt – Maria Volokhovas Porzellanarbeiten erscheinen als Symbiose des Unvereinbaren.

Der fünfte Teil der Beitragsreihe FORMBAR stellt eine Künstlerin vor, deren Werke Inneres im Außen darstellen. Zwei ihrer neuesten Arbeiten sind noch bis zum 25. September 2022 im Rahmen der dritten Porzellanbiennale in Meißen zu sehen. Mit der Gründung des Studios Volokhova Porcelain im Jahr 2010, lässt sich die freischaffende Künstlerin Maria Volokhova in Berlin nieder und stellt ihre mehrfach prämierten Arbeiten fortan äußerst erfolgreich national und international aus. 1980 in Kiew geboren, beginnt Volokhovas akademische Ausbildung 1993 eben dort an der Schewtschenko Staatliche Förderschule der Bildenden Kunst im Fachbereich Keramik. Nach Aufenthalten in Leipzig und Dresden schließt sich ab 1997 ein Studium an der renommierten Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle an. Das darauffolgende, dreijährige Forschungsstudium an der keramischen Fakultät der Tokyo National University of Fine Arts and Music (2006–2009) ermöglicht eine intensive und umfassende Auseinandersetzung mit dem Material Porzellan, sowohl in seiner Rezeption als auch in seinen technischen Möglichkeiten. Parallel dazu bieten Fachabteilungen der Neurologie und Neurobiologie eine dezidierte Beschäftigung mit der menschlichen Anatomie. So vereinen sich hier für Volokhova die Faszination für versteckte Formen mit jener für die Tradition des feinkeramischen Werkstoffes zur Herstellung von Alltagsgegenständen.

Chimäre aus Kunstwerk und Produktdesign

Sowohl in Volokhovas Formideen als auch in ihrer Arbeitsweise spiegeln sich Tradition und Innovation, teilweise verbunden mit konsum- und gesellschaftskritischen Intentionen. Die Serie Still Life Stories expliziert dabei eben jene Grenze zwischen Kunst und Produkt in Referenz auf die niederländische Stilllebenmalerei des Barock (Abb.1). Das mehrteilige Tafelarrangement als experimentelle und moderne Interpretation klassischer Vanitas-Motive bietet mit seiner morbiden Ästhetik einer entseelten Natur unter anderem einen aufgeschlitzten Hasen, der, eigentlich selbst zum Verzehr gedacht, nun als Gefäß fungiert. Experimentell geprägt ist auch Volokhovas technische Vorgehensweise, die sich vorrangig auf Naturabformungen fokussiert. So entsteht das Vasenpaar Pearlescence (2016), wofür sich zum einen das Innere und zum anderen das Äußere eines Seeteufelkopfes durch direkte Abformung in Gips übertragen sieht (Abb.2). Anschließend klassisch in Hartporzellan gegossen und glasiert kontrastieren und spiegeln sich hier Form und Gehalt zugleich. Dabei stehen die materialästhetischen Attribute des Porzellans, wie Erhabenheit und Reinheit, entgegen dem morbiden Sujet, der vermeintlichen Hässlichkeit des Dargestellten. Gleichzeitig gelingen die Exploration und Abbildung innerer Erscheinungen durch den Werkstoff selbst, der durch seine Zerbrechlichkeit eben jene des Inneren noch potenziert und in der das Porzellan durch seine außerordentliche Plastizität so präzise und fein ist, dass die Abformung jedes Detail sinnlich erfahrbar werden lässt. In der Serie Frozen, für die ein vakuumverpacktes Ferkel abgeformt wurde, zeigt sich der in Porzellan gegossene Grenzbereich zwischen Lebewesen und Ware und diesem intendiert ein konsumkritisches Hinterfragen (Abb.3).

Durch die Kombination der traditionellen Gusstechnik mit den modernen Möglichkeiten des 3- D-Druckes, entsteht beispielsweise eine der jüngsten Arbeiten der Künstlerin. Für die Kanne des Teeservices Brain Teapot (2021) wird ein 3-D-Scan eines Kalbshirnes angefertigt, der durch Vergrößerung sowie minimale digitale Anpassungen eine nutzbare Form erhält. Dem sich anschließenden 3-D-Druck folgen wiederum der Gipsformenbau und der Porzellanguss. Korrespondierend dazu entsteht der Deckel aus einer exakten Naturabformung des Kalbshirnes, in der sich die strukturellen und fertigungstechnischen Unterschiede zeigen. Form und Struktur der Teetasse werden aus der MRT-Aufnahme eines menschlichen Gehirnes entwickelt (Abb.4+5). In ihrer Anlage im Grenzbereich zwischen Kunstwerk und funktionalem Produkt, machen die Objekte den Abnehmer nicht nur zum Rezipienten, sondern auch zum Nutzer. „Die Faszination für natürliche Formen soll sowohl durch visuelle Ästhetik als auch durch haptisches Erlebnis erfahrbar werden“, so Volokhova. 

Dritte Porzellanbiennale in Meißen

Auf der in diesem Jahr zum dritten Mal ausgerichteten, internationalen Porzellanbiennale in Meißen stellen sich die Werke zeitgenössischer Porzellanplastiker wieder im historischen Ambiente der Albrechtsburg dar. Maria Volokhova zeigt hier zwei Installationen – eine davon mit aktuellstem politischem Bezug. Broken Hearts, Shattered Hearths (2022) reflektiert den Russland-Ukraine-Krieg in dessen Grausamkeit für das ukrainische Individuum und das Kollektiv. Dabei verbinden sich 60 Porzellanobjekte zu einer raumgreifenden Komposition aus anatomisch divergierenden Herzen, arrangiert auf verschiedenen Ebenen. Die Naturabformungen von Rinder-, Kalbs-, Schweine- und Lammherzen repräsentieren dabei die traditionelle ukrainische Mehrgenerationen-Gemeinschaft – die Familie aus Großeltern, Eltern  und Kindern – und illustrieren gleichzeitig eindrücklich das rohe Kriegsgeschehen, in dem

ukrainische Überlebende dem Anblick ihrer wie Vieh abgeschlachteter Landsleute ausgesetzt sind. So vermittelt das Werk durch Unversehrtheit über Deformation bis hin zur Zersplitterung den fundamentalen Eingriff in die Identität einer Nation sowie deren Zerbrechlichkeit (Abb.6– 9). 

Ebenfalls zu sehen ist die Tafelinstallation Natura Morta (Abb.10–12). Die äußerst detailreichen Abformungen essbarer Haustierinnereien laden zur Reflexion über gesellschaftliche und ästhetische Widersprüchlichkeiten ein. „Die Darstellung des Morbiden bezieht sich auf die Ambivalenz in der Einstellung zu unserem psychologischen Inneren. Porzellan, als schönes und erhabenes Material setze ich dabei bewusst ein, um den Spagat zwischen der inhaltlichen und der visuellen Wahrnehmung zu schaffen“, so die Künstlerin. Der Werkstoff reflektiere den schönen, oberflächlichen Schein, dem die heutige westliche Gesellschaft erliege und die in ihrer Dekadenz Unangenehmes ausblende. So enthüllen die Deckel aus Eingeweiden, deren Dekoration mit glänzenden, polychromen Lüsterglasuren die optische Schönheit der Oberfläche noch verstärken, diverse Köstlichkeiten. „Dabei sind es doch gerade die Innereien, die das Leben und Existieren aller Lebewesen sichern“, gibt Volokhova zu bedenken.

 

PORZELLANIKON,  Frauenpower & Porzellan, 8.05.2021

Maria Volokhova

Eine Powerfrau, die das Schockierende in Porzellan wagt.

Das Innere und Äußere eines monströsen Seeteufels als Vase? Ein Schweinekopf als Teekanne? Ein aufgeschnittener, an der Pfote aufgehängter Hase als Schale? Gibt es das überhaupt? Die Antwort ist „Ja“. – Die Porzellane von Maria Volokhova schockieren und provozieren. Gleichzeitig nimmt den Betrachter die Eleganz des Porzellans, dessen besonderer Schein und weiße Oberfläche und akribische Ausarbeitung gefangen, die den Objekten eine besondere, ästhetische Ausstrahlung verleihen. Dieser Widerspruch ist von Maria Volokhova gewollt: „Mich reizt es, ausgefallene Objekte zu gestalten, die morbide Thematiken mit optischer Schönheit verbinden und eine Funktion offenbaren.“

Gerade am Beginn ihrer Karriere, die sie vor 16 Jahre startete, wurde Maria Volokhova oft gesagt, diese Themen ließen sich in Porzellan nicht umsetzen. Solche Aussagen beeindruckten sie nicht: „Mein Credo ist, das Ungewöhnliche und Unmögliche in Porzellan zu realisieren, die Grenzen des Realisierbaren auszuweiten.“ Seitdem setzt sie ihre künstlerischen Ideen in Porzellan um – auf eine eben sehr markante und aufrührende Art und Weise.

Ihre Inspirationsquelle sind das Ausschweifende der fürstlichen Porzellankunst oder die Vergänglichkeit in der Stilllebenmalerei des Barock, aber auch Formen und Strukturen aus der Tier- und Pflanzenwelt. Handwerklich entstehen ihre Porzellanobjekte und -installationen durch traditionelles Abformen und Modellieren der realen Tiere, oder auch durch die Verwendung perfektionierender, digitaler Technik und anschließender Ausformung. Ein Prozess, der mehrere Monate, manchmal sogar Jahre in Anspruch nimmt. „Meine eigene Arbeit befindet sich im Spannungsfeld aus Perfektem und Unperfektem, Schönem und Hässlichem, Modernem und Traditionellem“, sagt die introvertierte Künstlerin, deren Arbeiten wir eines Tages im Porzellanikon dauerhaft ausstellen möchten.

 

NEAR LIFE, The Gipsformerei- 200 Years of Casting Plaster, 2019, PRESTEL

Pearlescence (2017) consists of two vase bodies based on the double casting of the head of a monk sh. Despite its reputation as the epitome of ugliness, the monk sh is a deli- cacy. Its tail — tiny compared to its head — is an expensive delicacy, whereas the head almost comes for free. Having come across this extraordinary maritime creature at the sh counter of Kaufhaus des Westens in Berlin, I bought the head and took it back to my workshop. As I examined the creature more closely, I became fascinated with the inner life that its open throat revealed. Peering into the sh’s mouth, a hollow space surrounded by beautiful, soft struc- tures appeared. As one can not grasp all this beauty just by looking at it, I came up with the idea of taking moulds of the sh, from both inside and out. What interests me most is the aesthetic of ugliness, symbolised in this case by the monstrosity of the monk sh, as well as turning inside out the inner appearances and processes of things. I am fascinated by structures and the beauty of certain phenomena to be found in nature, even though they may not commonly be considered aesthetically valuable. Porcelain is an exquisite material steeped in tradition, which contrasts form and content in fascinating ways. In this project, I tried to avoid both artis- tic exaggerations and simpli cations and to rather show nature’s creations as I nd them. Since I would never be able to model natural structures with the same degree of precision as nature has made them, I consider myself fortunate for being able to resort to the technique of casting.

Maria Volokhova, artist / Dr. V. Tocha, curator

DRAUSSENSTADT, Stadt - Findet - Kunst

August - October 2023 "Künstlerische Intervenitionen in Charlottenburg - Wimersdorf"

KÄFERZEITUNG, Mai 2020

Morbide Ästhetik

Oder wie Maria Volokhova die Anatomie von Mensch und Tier mit Porzellan auf eine neue künstlerische Ebene hebt.

Ein Fisch mit weit aufgerissenem Maul als Lampe, ein Schweinekopf als Teekanne mit passenden Tassen oder ein menschliches Herz als Vase – all diese Arbeiten stammen von Maria Volokhova. Seit zehn Jahren lebt die Ukrainerin als freischaffende Künstlerin und Designerin in Berlin und zeigt seither mit ihren Werken, dass man aus feinem Porzellan weit mehr machen kann als die klassisch lieblichen Dekore, die bei den meisten für besondere Anlässe im Schrank stehen. „Think out of the box" lautet ihr Motto. Und so entstehen zwischen Bildender Kunst und Produktdesign ausgefallene funktionale Objekte, vor allem inspiriert von historischen Vorbildern sowie Formen und Strukturen der Tier- und Pflanzenwelt. „Mich interessiert die Ästhetik des Hässlichen und das Nachaußenkehren innerer Erscheinungen und Prozesse", erzählt sie im Interview. "Die natürlich vorkommenden Strukturen und die Schönheit bestimmter Phänomene, die gemeinhin nicht unbedingt als ästhetisch erachtet werden, faszinieren mich."  

 

Dass es beruflich in Richtung Gestaltung gehen sollte, wusste die gebürtige Kiewerin schon früh. „Mit sechs Jahren fing ich an zu zeichnen und besuchte eine Abendkunstschule, bevor ich an einem Kunstgymnasium meinen Abschluss machte“, erinnert sie sich. Ihr Studium an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle führte sie 1997 schließlich nach Deutschland. Besonders faszinierte sie die Arbeit mit dem Werkstoff Keramik, da dieser ihre Gedanken so gut in etwas Haptisches übersetzen konnte. So entstand der Wunsch, in Japan, dem Land, das als Wiege der Keramik gilt, mehr darüber zu lernen. 2006 ergatterte Volokhova einen Platz an der Kunstuniversität Tokio und begann, sich intensiver mit den unterschiedlichen Facetten des Materials – unter anderem mit dem feinkeramischen Porzellan – auseinanderzusetzen. Zudem beschäftigte sie sich eingehend mit der Anatomie des Menschen und dem Kontrast, den die medizinischen Details zu dem erhabenen Material schaffen. Und so reifte die Idee, mit Porzellanarbeiten das Innenleben von Mensch und Tier zu erforschen und abzubilden. 

 

Zurück in Deutschland und in ihrem eigenen Studio in Berlin-Kreuzberg legte die Künstlerin kreativ und experimentell los. Ein Eierbecher auf Hühnerfüßen oder ein Schafschädel, der sich in fünf Einzeilteile (Tasse, Schüsseln und Teller) zerlegen lässt, gehören zu ihren bisherigen Werken, die sie mit Drehplatte, Feilen, Messern, Pinseln und Bürsten fertigt. Am liebsten entwirft die Brünette ganze Tafeln nach barockem oder fürstlichem Vorbild samt Geschirr für besondere Mahlzeiten – vom aufgeschlitzten Hasen als Obstschale über einen Schafsmagen als Servierplatte mit Haube bis hin zur Sauciere in Form Austernschale Durch das gestalterische Spiel mit morbiden, oft abstoßenden Motiven, die sie auf Alltagsgegenstände wie Geschirr, Vasen und Lampen projiziert, schafft sie eine Kunstform, die nicht nur betrachtet, sondern benutzt werden kann. „Ich möchte die Menschen zum Nachdenken anregen und gedanklich auf eine neue Ebene führen“, antwortet sie auf die Frage nach der beabsichtigten Wirkung ihrer Kunst. Hinzu kommt der Kontrast zum traditionellen und edlen Material Porzellan, das die unangenehmen Inhalte auf eine neue ästhetische Ebene setzt. Künstlerische Übersteigerungen oder Vereinfachungen versucht die 40-Jährige dabei zu vermeiden, stattdessen möchte sie die Kreationen der Natur so wiedergeben wie sie sind. Deshalb modelliert sie die natürlichen Strukturen nicht nach, sondern nutzt die Technik der Abformung. Das gestaltet sich aufgrund der Oberflächenbeschaffung jedoch oft schwierig. So klappte etwa die Abformung des schleimigen Äußeren und Inneren eines Seeteufels erst beim vierten Versuch. Und das, obwohl die Designerin dafür extra eine Vorrichtung gebaut hatte, in der der Fisch aufgehängt und das Innere aufgespannt werden konnte.

 

Die Künstlerin verbringt viele Stunden mit Austesten und Nachjustieren und damit, die Grenzen des Möglichen zu erweitern. „Neue Projekte entstehen, wenn ich etwas sehe, das mich fasziniert. Dann hinterfrage ich, was daran spannend ist und versuche genau diesen Moment mit meiner Arbeit einzufangen“, erklärt sie. Manche Ideen werden ohne lange Vorbereitung sofort umgesetzt. Für andere, meist konzeptionelle Arbeiten, recherchiert Maria Volokhova Hintergrundgeschichte und Symbolik in der Bibliothek und beginnt anschließend mit ersten Abformungen aus Gips, Silikon oder Tonmodellagen, die sie schrittweise verfeinert, abgießt, brennt und glasiert. Viele Details und Gedankenebenen entstehen immer erst im Prozess. Ein Schwein etwa hat eine sehr konträre Symbolik und steht einerseits für Glück, andererseits für schlechtes Benehmen oder einen schlechten Menschen. „Genau mit dieser Dichotomie spiele ich bei meinen Designs.“, beschreibt sie. Zwischen der ersten Idee und dem fertigen Werk liegen meist acht bis zwölf Monate, manchmal auch mehrere Jahre. Eine Schwanenlampe war die bisher aufwändigste Arbeit. Drei einzelne, circa fünf Zentimeter dicke Gipsformen à 20 bzw. 30 Kilo hat sie dafür mit 15 bis 20 Litern Porzellanmasse gefüllt, einzeln gebrannt und hinterher zusammengesetzt. Oft sind die Rohlinge so schwer und groß, dass die Designerin, die meist alleine arbeitet, sie nur mit Hilfe eines Assistenten bewegen kann. Auch das Material birgt einige Tücken. Porzellan kann beim Brennen reißen oder sich verziehen, zudem schrumpft es um 16 bis 18 Prozent. Dadurch sind die Modelle viel größer als die späteren Endprodukte und aus einem 40 Kilo schweren fasshohen Rohling wird später eine gerade einmal 40 Zentimeter hohe Vase. 

 

Um ein breiteres Publikum anzusprechen, arbeitet die Künstlerin immer bewusst zwischen Kunst und Produktdesign, also gefälligeren Artikeln, die man in ausgewählten Läden (in München z. B. im Chaingang Store) erwerben kann. Ansonsten verkauft sie an Sammler und Museen, Designer sowie professionelle Kunstschaffende, stellt ihre Werke in Galerien aus oder präsentiert sie weltweit auf Shows. Ihr Lieblingsprojekt? Immer das, woran sie gerade arbeitet. Seit drei Jahren mittlerweile an einem lange gehegten Traum, einer großen Tafel, bei der es um menschliche Anatomie geht und die bis zum kommenden Frühjahr endlich fertig werden soll.

MUSEUMSJOURNAL IV/2017

https://www.museumsportal-berlin.de/es/magazin/blickfange/bestiarium/

Blickfang BESTIARIUM

Claudia Kanowski

Auf den ersten Blick ist man irritiert, wenn man die Porzellane aus dem Ensemble BESTIARIUM betrachtet. Ist es Gebrauchsgeschirr oder Objektkunst? Sind es Naturabformungen oder frei modellierte Gefäße? Handelt es sich um Kunsthandwerk oder Produktdesign? Sind die Formen und Dekore auf digitalem oder analogem Weg entstanden?

BESTIARIUM steht genau an der Schnittstelle zwischen all diesen Aspekten. Das Tafelensemble entstand im Jahr 2015 in einer Kooperation zwischen der Porzellankünstlerin Maria Volokhova und dem Berliner Designbüro SHAPES iN PLAY (Johanna Spath und Johannes Tsopanides). Teile daraus wurden kürzlich für das Kunstgewerbemuseum der Staatlichen Museen zu Berlin erworben: eine Fischplatte mit Hechtkopf, eine kleine, fischköpfige Vase, ein sechsteiliges Tellerset, eine Tortenplatte mit Tortenhaube, die auf Hühnerfüßen platziert ist, sowie eine Teekanne in Schildkrötenform mit zwei Schalen. 

Beim Entstehungsprozess greifen analoge und digitale Verfahren ineinander. Gestalterische Grundlage bilden Naturabformungen aus Gips. Hecht- und Karpfenkopf sowie Hühnerbeine hat Maria Volokhova direkt in Gips abgeformt. Die davon gefertigten Silikonpositive wurden eingescannt. Mittels einer speziellen Software hat SHAPES iN PLAY diese Scans dann zu dreidimensionalen Modellen weiterentwickelt. Einen Eindruck von der digitalen Entwurfsgenese erhält man beim Betrachten der Tellerdekore. In künstlerischer Verfremdung ist hier das jeweils zugrundeliegende Bildschirmbild dargestellt, zum Beispiel die Schildkrötenkanne, die Schnaupe der Kanne, der Hechtkopf oder, auf der Tortenplatte, der Vogel, der zum vogelkopfförmigen Griff der Tortenhaube führte. Die Aufglasurfarben, mit denen die im Digitaldruckverfahren aufgebrachten Dekore gestaltet sind, sind typische Softwarefarben. Auch die vielfach gebrochenen Oberflächenstrukturen sind digital generiert. Parallel zur digitalen Gestaltung entstanden die Formideen aber auch analog und haptisch „real“. So basiert die Tortenhaube in ihrer Stofflichkeit auf Experimenten, die Maria Volokhova mit einem tongetränkten Tuch durchführte. Die auf diesem analog-digitalen Weg erzeugten Modelle werden am 3D Drucker in Polyamid gedruckt. Der weitere Herstellungsprozess unterscheidet sich nicht von herkömmlichen Porzellanen: Von der Mutterform werden Gipsnegative abgenommen – mehrere Teile bei komplexen Formen wie zum Beispiel der Teekanne –, diese dann zusammengesetzt, so dass die Porzellanmasse eingegossen werden kann. Es folgen die manuelle Überarbeitung, das Glasieren und Brennen bei etwa 1450 Grad Celsius. Die einzelnen Teile des Services werden in Kleinstserie, nur auf Nachfrage, hergestellt. Da mit unterschiedlichen Porzellanmassen gearbeitet wird, ist quasi jede Ausformung ein Einzelstück.

In der Hybridität zwischen analogen und digitalen Techniken spiegelt sich das künstlerische Konzept von Maria Volokhova und SHAPES iN PLAY wider. Auch die Objekte sind Mischwesen – halb Tier, halb Gefäß, halb naturalistisch, halb abstrakt. Sie stehen für unsere widersprüchliche, oftmals irritierende Gegenwart, bilden eine eigene Welt, in der Reales und Computergeneriertes ineinander übergehen. Dabei wirkten historische Bildfindungen inspirierend, zum Beispiel die hybriden Fantasiewesen von Hieronymus Bosch. Beim Gang durch die vielfältigen Bestände des Kunstgewerbemuseums eröffnen sich weitere historische Anknüpfungspunkte: etwa bei den Naturabgüssen von Wenzel Jamnitzer im Renaissanceraum, den Schaugerichten aus Fayence und Porzellan im Barock- und Rokokoraum oder auch den biomorphen Formen und Dekore auf Servicen und Vasen, die im Jugendstil zu finden sind.

Zusammengebracht hat Maria Volokhova und Johanna Spath die Begeisterung für das Material Porzellan. Sie haben sich bei einem Porzellanworkshop in Polen kennengelernt. Maria Volokhova, gebürtige Ukrainerin, hat an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle Bildende Kunst studiert. Mit Keramik hat sie sich intensiv während eines mehrjährigen Japanaufenthalts auseinandergesetzt, wo sie an der keramischen Fakultät der Kunstuniversität Tokio studiert hat. Johanna Spath, die seit 2011 zusammen mit dem Designer Johannes Tsopanides das Berliner Büro SHAPES iN PLAY führt, begann ihre Laufbahn mit einer handwerklichen Ausbildung zur Modelleurin an der Fachschule für Porzellan im fränkischen Selb. Anschließend hat sie Produktdesign an der Hochschule Coburg studiert.

Als das Berliner Kunstgewerbemuseum vor einhundertfünfzig Jahren – als erstes Museum seiner Art in Deutschland – gegründet wurde, geschah dies auch in Reaktion auf die radikalen Veränderungen, die die maschinelle Industrialisierung mit sich brachte. Durch hochwertiges Kunsthandwerk verschiedener Epochen und Länder wollte man Kunstschaffenden Orientierungshilfen an die Hand geben. BESTIARIUM setzt sich mit den digitalen Möglichkeiten unserer Gegenwart auseinander und schlägt zugleich Brücken in die Vergangenheit. Insofern fügt sich die Arbeit sehr gut in die Bestände des Kunstgewerbemuseums ein und bildet nicht nur für Porzellanfreunde einen Blickfang.

 

Dr. Claudia Kanowski ist Kuratorin für Keramik am Kunstgewerbemuseum SMB.